Supermarkt innen von oben

Auf Nachfrage eines Mitglieds haben wir uns mit den Änderungen beim Anspruch auf Mehrbedarf für Ernährung bei MS beschäftigt. Dazu haben wir den Bundesverband mit ins Boot geholt und die Prüfung des Sachverhalts hat folgendes ergeben

Das Formular zur Gewährung eines Mehrbedarfs für kostenaufwändige Ernährung nach SGB II (ALG II MEB) hat sich geändert: https://www.arbeitsagentur.de/datei/AnlageMEB_ba013060.pdf 

Der „medizinisch indizierte Mehrbedarf“, der nach § 21 Abs.5 SGB II zu gewähren ist, orientiert sich an den Empfehlungen des Deutschen Vereins. Es handelt sich hierbei um sog. „antizipierte Sachverständigengutachten“, die als Handlungsempfehlungen zu qualifizieren sind.  Im Jahr 2020 wurde eine Empfehlung zu § 30 SGB XII herausgegeben, die ausdrücklich auch für § 21 SGB II gilt und  die Empfehlung von 2014 ersetzt: https://www.deutscher-verein.de/de/empfehlungenstellungnahmen-2020-empfehlungen-des-deutschen-vereins-zur-gewaehrung-des-mehrbedarfs-bei-kostenaufwaendiger-ernaehrung-gemaess-30-abs-5-sgb-xii-3955,1997,1000.html 

Fachliche Weisungen hierzu gibt es aus 2021: https://www.arbeitsagentur.de/datei/dok_ba015861.pdf 

An den Empfehlungen des Deutschen Vereins (DV) ist der DMSG-Bundesverband nicht beteiligt gewesen. Es wurde ein Gutachten zur Überprüfung der in den DV-Empfehlungen aufgeführten Erkrankungen, bei denen eine Vollkosternährung empfohlen wurde, bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) in Auftrag gegeben.
Eine „Vollkost“ stellt keine Krankenkost i.S.d. § 21 Abs. 5 SGB II dar. § 21 Abs.5 SGB II hat nach der Rechtsprechung auch „keine Auffangfunktion für eine gesunde Ernährungsweise. Für eine Vielzahl von Erkrankungen wird eine Vollkost als grundsätzlich ausreichend angesehen. Dies gilt nach den Empfehlungen des DV auch für eine Vielzahl von sog. „verzehrenden Erkrankungen“, mit denen erhebliche körperliche Einschränkungen einhergehen, wie z.B. Krebs, HIV und auch MS. 
Die Empfehlungen bei diesen Erkrankungen sehen daher nur einen Mehrbedarf bei schweren Verläufen vor oder bei Vorliegen besonderer Umstände. Bei Abweichungen von den Empfehlungen müssen individuelle Anhaltspunkte vorgetragen werden, so dass eine Einzelfallprüfung erfolgt. 

Das „neue Formular 2022“ orientiert sich an den Empfehlungen des DV aus dem Jahr 2020. Daraus folgt, dass ein Mehrbedarf weiterhin auch dann bejaht werden kann, wenn die Krankheit im Katalog der Empfehlungen nicht expliziert aufgeführt wird. Dies wurde von der Rechtsprechung bestätigt. Maßgeblich ist immer der im Einzelfall begründete tatsächliche Mehrbedarf. 

Die MS-Erkrankung ist bei Empfehlungen 2014 unter die sog.“ verzehrenden/konsumierenden Erkrankungen“ gefallen und wurde dort, wie auch die Krebserkrankung, HIV und COPD, namentlich aufgeführt. In den Empfehlungen von 2020 ist nun von. „krankheitsassoziierter Mangelernährung“ die Rede. Unter diesen Begriff fallen Tumorerkrankungen, ebenso wie COPD und auch neurologische Erkrankungen (vgl. S. 11 der Empfehlung). Die Multiple Sklerose wird hier nicht mehr ausdrücklich genannt, fällt aber in die Kategorie „neurologische Erkrankung“. 

Diagnose MS alleine nicht ausreichend 

Die Diagnose MS reicht alleine als „verzehrende Erkrankung“ reicht alleine nicht aus, für die Gewährung einer Krankenkostzulage.  

Hier heißt es in den Empfehlungen 2020 zu den neurologischen Erkrankungen auf S. 11/12: „Sie zählen zu den Erkrankungen, bei denen häufig eine Mangelerkrankung assoziiert werden kann.“ 

Weiter heißt es: „Die aufgezählten Krankheiten führen nicht zwingend in einen Zustand der Mangelernährung. Die Diagnostik einer Mangelernährung erfolgt anhand der sog. GLIM-Kriterien. Demnach muss mindestens jeweils ein Kriterium phänotypischer (d.h. das Erscheinungsbild des Individuums betreffend) und ätiologischer Natur (d.h. die Ursachen für das Entstehen der Mangelernährung betreffend) erfüllt sein. 

Phänotypische Kriterien: 

  • Unbeabsichtigter Gewichtsverlust (> 5 Prozent innerhalb der letzten sechs Monate oder > 10 Prozent über sechs Monate hinaus)
  • Niedriger Body-Mass-Index (< 20, wenn < 70 Jahre – oder < 22, wenn > 70 Jahre)
  • Reduzierte Muskelmasse (gemessen mit validierten Messmethoden zur Bestimmung der Körperzusammensetzung)

Ätiologische Kriterien: 

  • Geringe Nahrungsaufnahme oder Malassimilation (< 50 % des geschätzten Energiebedarfs > 1 Woche oder jede Reduktion für > 2 Wochen oder jede andere chronische gastrointestinale Kondition, welche die Nahrungsassimilation oder Absorption über Wochen beeinträchtigt)
  • Krankheitsschwere/Inflammation

In der Regel ist bei gesicherter MS Diagnose einer Mangelernährung ein Mehrbedarf zu bejahen. Der Tatbestand kann ausnahmsweise dann nicht erfüllt sein, wenn zwar die phänotypischen und ätiologischen Kriterien erfüllt sind, aber aufgrund der Besonderheiten des Krankheitsbildes tatsächlich nicht von einer kostenaufwändigeren Ernährung auszugehen ist. Letzteres kann bspw. bei Anorexia nervosa (Magersucht) der Fall sein. Zwar wird die MS im Rahmen der neuen Terminologie „krankheitsassoziierter Mangelernährung“ nicht mehr ausdrücklich genannt, sondern der Begriff „neurologische Erkrankungen“. Allerdings hat sich durch die Terminierung für Menschen mit MS nichts geändert. Die Voraussetzungen der Gewährung sind unverändert geblieben und der Nachweis der „Mangelernährung“ war bereits zuvor gegeben.  

Fazit: Die Diagnose MS reicht für einen ernährungsbedingten Zuschlag für aufwändige Ernährung nicht aus. Wenn jedoch jeweils ein Kriterium phänotypisch und ätiologische zu bejahen ist, sollte im Einzelfall die Prüfung positiv ausfallen.  

Wenn Sie Unterstützung bei der Beantragung benötigen, wenden Sie sich gerne an unsere Beraterinnen in den Regionalstellen.  

Erkrankung Empfohlener Mehrbedarf (in % der Regelbedarfsstufe 1)
Zöliakie 20 %
Mukoviszidose 30 %
Krankheitsbedingte Mangelernährung 10 %
Terminale Niereninsuffizienz mit Digitalistherapie 5 %
„Schluckstörungen“ In Höhe der tatsächlichen Aufwendungen

Aus der Empfehlung des Deutschen Vereins von 2020: Die Tabelle dient lediglich der Übersicht. Die empfohlenen Mehrbedarfe sind niemals isoliert, sondern stets im Zusammenhang mit den Erläuterungen der Empfehlungen zu betrachten.

Für Menschen mit MS bedeutet das: Eine krankheitsassoziierte Mangelernährung bzw. Mehraufwendungen bei Schluckstörungen müssen belegt und beim Sozialversicherungsträger beantragt werden.