Heute stellen wir euch einen Gastbeitrag von Gwendolyn Schulte vor. In diesem berichtet sie aus ihrem Alltag mit der MS-Erkrankung und dem Umgang damit. Außerdem verrät sie uns kleine Tricks, wie sie ihre Tagesration an Energie mit kleinen Hilfsmitteln besser einzuteilen gelernt hat.

Gastbeitrag von Gwendolyn Schulte

Ich lebe seit 25 Jahren mit MS und das heißt, sie ist wirklich immer präsent, egal, ob ich morgens aufstehe, mir die Zähne putze, Haare wasche, Schuhe anziehe. Irgendwelche Symptome oder Einschränkungen gibt es immer. Vieles ist mühsamer geworden. Aber: was mich im Alltag manchmal unterstützt, ist die oft zitierte Löffelchen-These, also die Idee, dass ich als chronisch Kranke eine bestimmte Anzahl an Löffelchen täglich zur Verfügung habe und drauf achten muss, dass ich die nicht alle sofort verbrauche. Ich weiß zum Beispiel, duschen und Haare waschen sind 2 Löffelchen. Die sind dann weg. Das kann ich nicht mehr jeden Tag wie früher. Und ich habe längst nicht mehr so lange Haare und trage meist Shirt statt Bluse mit Knöpfen. Knöpfe sind auch schon mal ein voller Löffel gleich vorm ersten Kaffee. Kaffeebohnen sind eine andere nette Idee zur Alltagsbewältigung. Eine Zeit lang  habe ich das sehr regelmäßig praktiziert. Man steckt sich morgens 5 Kaffeebohnen in die linke Hosentasche und jedes Mal, wenn etwas Nettes passiert, wandert eine der Bohnen in die andere Hosentasche. Übrigens rate ich davon ab, wirklich echte Kaffeebohnen zu nehmen. Ich hatte die Taschen voller Krümel, Knöpfe sind besser…. Das muss übrigens nichts Großes sein, weswegen man die Bohnen, Knöpfe oder was immer transferiert – zum Beispiel, neulich hat ein Nachbar ein Paket abgeholt, das ich für ihn angenommen hatte, und er hat mir zwei Orangen geschenkt. Das war doch eine Kaffeebohne wert. Kleine Begegnungen wie diese haben überhaupt einen großen neuen Stellenwert, und ich weiß sie sehr zu schätzen. Die Nachbarin, die im strömenden Regen über die Straße rennt, als sie vom Fenster aussieht, wie ich mich mit meinem Rollator hier vorm Haus die Stufe hochkämpfe zum Beispiel. Das war auch ein Knopf und ich habe ihr echt gedankt, sie hat mir geholfen.

Ich nehme Pakete entgegen oder biete Obdach, wenn sich jemand ausgesperrt hat und bin immer freundlich zu Nachbarinnen, die mir zum 100. Mal dasselbe erzählen. Neu ist für mich die Tiny Habit Methode, die will ich jetzt auch mal ausprobieren. Die Idee ist, dass man einfach mittels kleiner Gewohnheiten den Alltag beeinflusst. Zum Beispiel trinke ich sehr wenig und da will ich mal versuchen mir anzugewöhnen, immer einen Schluck Wasser zu trinken, wenn ich zur Toilette gegangen bin – und das müssen MSler ja ziemlich oft. Eine weitere Idee, die mein Freund und ich manchmal üben, ist, dass jeder abends im Bett vorm Einschlafen drei Dinge erzählt, die heute gut waren.  – Erstaunlich, dass einem immer etwas einfällt – zum Beispiel, dass man ein schönes Telefonat hatte oder eben die Nachbarin von gegenüber, die spontan sieht, da braucht jemand Hilfe oder der Tee, den mir mein Freund kocht. Es gibt aber  immer auch Tage, da ist irgendwie alles Mist. In einer englischen Radiosendung hörte ich mal „crip time“ – das heißt übersetzt etwa, wir brauchen auch Phasen, in denen wir uns um die Behinderung bzw. chronische Krankheit kümmern. Ein Tipp von neulich, bastle einen Zettelkasten für gute Erlebnisse und hole an einem schlechten Tag einen Zettel raus als Erinnerung gewissermaßen, dass es auch andere Zeiten gibt. Fatigue ist auch so was Unberechenbares. Wenn ich es rechtzeitig merke, kann ich es genießen, einfach mal gar nichts zu tun und unter der Wolldecke auf dem Sofa zu liegen. Blöd ist es, wenn es einen plötzlich irgendwo erwischt, so waren wir mal im Urlaub mit einer kleinen Fähre zu einer Bucht gefahren. Es wurde heiß, alle Energie wich aus mir, die Fahrt zurück war eine Qual und ich bekam Migräne. Solche Erfahrungen machen wir wohl alle, es ist nicht immer soo leicht, die eigene Energie vorherzusagen, aber wäre es unterm Strich besser gewesen, gleich im Hotelzimmer zu bleiben? Das weiß ich nie, habe aber das Gefühl, solange es noch Knöpfe bzw. Kaffeekrümel in meinen Hosentaschen gibt, will ich was erleben. Haare waschen geht morgen auch noch.

Wir danken Gwendolyn Schulte von Herzen für ihren Beitrag!

Der nächste Gastbeitrag von Frau P. „Lebensqualität durch Selbsthilfe“ erscheint kommenden Donnerstag, 22.02.2024!